Ein Professor als Lohnkutscher |
Ein Notschrei aus dem Saargebiet |
Erstes Tausend |
Saarlouis 1924 |
Verkehrs-Verlag G.m.b.H. |
Die Saarbrücker Landes-Zeitung, Nr. 135 vom 3. Juni 1924, schreibt:
Saarlouis: Ein Professor als Lohnkutscher?
In der hiesigen Stadt ist das unglaubliche Gerücht verbreitet, nach welchem ein Professor der städtischen höheren Schule, weil er angeblich mit seiner Besoldung von über 1000 Frcs. nicht auskommen kann, mit seinem Auto Lohnfahrten macht."
Man gestatte mir hierzu einige Bemerkungen:
Es dürfte wohl außer Frage stehen, daß die Gehälter der mittleren und höheren Beamten ganz unzureichend sind. Die unteren Beamten haben, wie die Arbeiter, das Friedensgehalt erreicht. Außerdem haben sie nicht den Geist auf Kosten des Körpers ausgebildet, so daß sie, wenn sie ihren 8stündigen Arbeitstag hinter sich haben, für eigene Rechnung und für Rechnung anderer körperlich weiter arbeiten können.
Dem geistigen Arbeiter wird im allgemeinen keine Gelegenheit geboten, sich durch den Geist Nebeneinkünfte zu verschaffen - und körperlich kann er mit dem Arbeiter den Wettbewerb nicht aushalten.
Es kommt hinzu, daß das Anfangsgehalt der höheren Beamten sich zum Endgehalt wie 3:4 verhält, während früher die Spanne 3:7 betrug. Heute erhält also ein Familienvater mit 2 Kindern als Anfangsgehalt 300 Mark und als Endgehalt 400 Mark. Früher betrug das Anfangsgehalt 300 Mark und das Endgehalt 700 Mark, d. h. man wollte dem Manne, der erwachsene Kinder hatte, Gelegenheit geben, seine Kinder auszubilden, für eine Aussteuer zu sorgen usw.
Die größere Hälfte meines Gehaltes ist nach Aussage des Arztes für meine Ernährung notwendig; aber wie soll ich denn meine Frau und meine beiden Kinder ernähren? Während des Krieges bin ich, wie ärztlich bezeugt wird, durch Unterernährung lungenkrank geworden. Ich habe fünfviertel Jahr meine Amtstätigkeit ausgesetzt. Im Schwarzwald habe ich Heilung gefunden. Wenn ich nun wieder durch Unterernährung krank würde, würde ich mich und meine Familie dem Elend preisgeben. Denn die Ruhegehälter, wie sie heute gezahlt werden, haben Siechtum und Tod im Gefolge.
Aus diesen Erwägungen heraus habe ich bei meiner vorgesetzten Behörde angefragt, wann die unzulänglichen Gehälter erhöht würden, und erhielt die Antwort, daß vorläufig an keine Besserung zu denken sei. Infolgedessen habe ich mich auf eigene Füße gestellt. Ich habe für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben - aber geistige Arbeit wird nicht bezahlt. Privatunterricht erteile ich grundsätzlich nicht.
Da ich nun seit 1909 im Besitze eines Kraftwagenführerscheins bin, kam ich auf den Gedanken, durch Kunstfertigkeit den Unterhalt für die Meinigen zu erwerben. Seit dem 1. April dieses Jahres fahre ich also den Personenwagen des Verkehrs-Verlags in Saarlouis. Die Einkünfte fließen in die Kasse des Verkehrs-Verlags, woran meine Frau beteiligt ist.
Man darf nicht annehmen, daß durch diese Tätigkeit meine Amtstätigkeit leidet. Im Gegenteil. Seit 1909 bin ich fast täglich, abgesehen von den Kriegsjahren, mit meinem Kraftwagen gefahren - zur Erholung. So auch heute, nur mit dem Unterschied, daß ich heute mit dieser Erholung Geld verdiene. Da jetzt meine wirtschaftlichen Verhältnisse gut sind, muß man auch meine Amtstätigkeit höher einschätzen. Denn von der Arbeit des geistigen Arbeiters, dessen wirtschaftliche Verhältnisse nicht geordnet sind, ist nicht viel zu halten.
"Aber Lohnfahrten", so könnte man sagen, "sind nicht standesgemäß". Dann gebe man mir ein standesgemäßes Gehalt. Mein Friedensgehalt beträgt 8500 Goldmark. Ich bekomme aber noch nicht die Hälfte davon - trotz der Teuerung. In meiner Jugend betete man: "Wir bitten nicht um Reichtum und Überfluß, sondern um das tägliche Brot. Gib uns, o Herr, den standesgemäßen Unterhalt!"
Als Student habe ich in Bonn drei Pfarrerstöchter im vorgerückten Alter in einem furchtbaren Elend gesehen,weil Arbeiten für sie nicht standesgemäß war. Damals habe ich mir ein Urteil gebildet über standesgemäße Arteit. "Lieber jede Arbeit, als standesgemäß hungern," so sagte ich mir. Diese Anschauung tritt auch in den Aufsatzthemen hervor, die ich schon vor 20 Jahren gab: "Jeder, der arbeitet, ist unserer Hochachtung wert", "Arbeit schändet nicht" usw. Ich kenne einen Herrn im besetzten Gebiet, der früher Hauptmann war. Heute macht er mit seinem Auto Lohnfahrten. Ob das standesgemäß ist, spielt bei ihm keine Rolle.
In Münstereifel trieb in den 70er Jahren ein Gymnasial-Professor jeden Nachmittag seine Kuh auf die Weide, um seine 10 Kinder zu ernähren. Lieber ehrlich gearbeitet, als standesgemäß hungern, so dachte der Mann.
Kann denn überhaupt heute noch ein höherer Beamter standesgemäß leben? Fahren nicht heute die meisten höheren Beamten in der vierten Klasse? Wieviele können ein Dienstmädchen halten? Welche Arbeiten verrichtet die Hausfrau? Wieviele Beamte sind verschuldet? Daher gibt es überhaupt keine Beamten mehr im eigentlichen Sinne des Wortes. Denn nur derjenige ist Beamter, der ein angemessenes Einkommen und Ruhegehalt hat und infolgedessen seine ganze Kraft dem Staate widmen kann.
Was mich nun persönlich angeht, so muß ich auf irgendeine Weise das Geld für den Unterhalt der Meinigen herbeischaffen; denn jedesmal am 20. des Monats war früher kein Geld mehr da. Jährlich muß für mich ein kurzer Aufenthalt im Schwarzwald ermöglicht werde. Das Geld für das Studium und die Aussteuer meiner Tochter muß verdient werden. Das Geld für meinen Sarg muß bereitliegen. Denn ich will nicht, daß meine Frau, wie das vom Philologenverein geplant ist, nach meinem Tod von jedem Philologen 5 Frcs. annimmt. Ich halte das nicht für standesgemäß. Ich muß ferner soviel Geld verdienen, daß ich mein Haus im Innern erneuern lassen kann. Endlich muß ich soviel zurücklegen, daß meine Frau nach meinem Tode wenigstens für 1 Jahr sichergestellt ist.
Nun könnte man die Frage stellen: Warum lässest du deine 20jährige Tochter nicht Geld verdienen? Darauf erwidere ich: Zunächst befindet sich diese in der Ausbildung. Andererseits bin ich der Ansicht, daß ein höherer Beamter, der nicht für eine Frau und zwei Kinder sorgen kann, mit Recht dem Spott von Frau und Kind anheimfällt. Auch halte ich es nicht für standesgemäß, daß meine Tochter mit 20 Jahren schon ins Erwerbsleben hinausgetrieben wird. Der Vater hat die Verpflichtung, für die Familie zu sorgen. "Hilf dir selbst, so hilft dir Gott" ist daher mein Grundsatz - und Gott hat wunderbar geholfen. Ich verdiene in einer halben Erholungsstunde mehr als im Gymnasium an einem ganzen Tag bei angestrengtester Arbeit.
Meine außeramtliche Tätigkeit ist mit der Tätigkeit eines Arztes zu vergleichen, der als Selbstfahrer die Kranken besucht und ins Krankenhaus fährt. Außerdem habe ich als Kraftfahrer während des Krieges hohe und höchste Herrschaften gefahren. "Und was der Soldat während seiner Dienstzeit gelernt hat", so habe ich in der Instruktionsstunde gehört, "soll er zu Hause zu verwerten suchen."
In meiner Anstellungsurkunde heißt es, ich soll die Pflichten des mir übertragenen Amtes in ihrem ganzen Umfange mit stets regem Eifer erfüllen, wogegen ich mich der mit meinem Amte verbundenen Rechte zu erfreuen haben soll. Der Pflichtenkreis ist beständig gewachsen. Ich erteile heute trotz meines Alters mehr Unterrichtsstunden als früher. Dagegen hat man mir ein Recht nach dem anderen genommen. Heute leben noch zwei Herren, die diese Urkunde unterzeichnet haben. Selbstverständlich würden diese Herren sich mit Recht sofort melden, wenn ich meine Pflichten verabsäumte. Aber wäre es nicht auch ihre Aufgabe, für meine Rechte einzutreten? Ich darf dies wohl deshalb um so eher erwarten, weil beide das geistliche Gewand tragen. Man sollte eigentlich erwarten, daß meine Rechte ausgedehnt würden, wenn der Pflichtenkreis sich erweitert. Statt dessen geht man hin und schmälert obendrein noch meine wohlerworbenen Rechte.
Und die Unterzeichner der Urkunde, soweit sie sich noch unter den Lebenden befinden, bleiben ruhig? Ist das Ganze denn nur eine Farce?
Zunächst hat man mir das Steuerprivileg ohne jede Entschädigung entzogen. Man zahlt mir mein Gehalt monatlich aus, trotzdem mir zugesichert worden ist, daß ich mein Gehalt für 3 Monate im voraus erhalten soll. Man unterscheidet heute zwischen Gehalt und Teuerungszulage, trotzdem die ganze Summe, den heutigen Verhältnissen entsprechend, nur als Gehalt angesehen werden kann.
Diese Methode wird angewandt, damit man mir ein kleines Ruhegehalt zu bezahlen braucht und meine Frau nach meinem Tode sozusagen nichts erhält. Die Steuern muß ich im voraus entrichten, während ich sie früher am Ende des Vierteljahres bezahlte.
Wozu erwähne ich alles dies? Um zu zeigen, daß meine wirtschaftlichen Verhältnisse sich gegen früher furchtbar verschoben haben. Ich erhalte, wenn man all diese Ausfälle berücksichtigt, noch nicht die Hälfte meines Friedensgehaltes. Die Teuerung ist dabei noch gar nicht berücksichtigt.
Es folgt ein längeres Zitat des Reichsbundes der höheren Beamten zur Besoldungsregelung in Deutschland.
Es kommt hinzu, daß ich eher Nachteile als Vorteile davon habe, daß ich Hausbesitzer bin. Denn bei den niedrigen Mieten würde ich billiger in einer Mietwohnung wohnen, da die Kosten für die Unterhaltung des Hauses den Betrag der Miete übersteigen.
Der Staat hat also mein Gehalt den heutigen Verhältnissen nicht angepaßt. Dagegen hat er seine Auslagen den heutigen Verhältnissen anbequemt. Denn für mein 11jähriges Kind zum Beispiel soll ich 400 Frcs. Schulgeld bezahlen, trotzdem ich nur 504 Frcs. Kinderzulage erhalte.
So besehen, ist das doch gar keine Kinderzulage mehr!
Schließlich möchte ich betonen, daß ich während des Krieges und nach dem Kriege genug gehungert habe.
Vier Jahre habe ich für mich und die Meinen die Schuhe gesohlt.
Mein Haus habe ich von außen selbst angestrichen.
Mir fehlt das Geld um es selbst im Innern zu erneuern. Ich kann meinem 11jährigen Kind, das dem Kinderbett entwachsen ist, kein passendes Bett kaufen.
Komme ich abends an dem Bett meiner 11jährigen Tochter vorbei und sehe, wie das Kind sich nicht strecken kann, dann denke ich wohl zuerst scherzhaft an Prokrustes, aber dann krampft sich mir vor Wut das Herz zusammen, um schließlich in mohammedanischer Ohnmacht resigniert zu mir selbst zu sagen:
"Du hast es herrlich weit gebracht. Jahrzehntelang hast du dich auf deinen Beruf vorbereitet, hast Tag und Nacht gearbeitet, um in einigen Wochen deinem Kind auf der Erde ein Lager zu bereiten. Gottes Wege sind wunderbar."
Ich habe höhere Beamte getroffen die noch nicht eine Zigarre im Hause hatten, trotzdem sie starke Raucher waren. Diese engen Verhältnisse müssen aufhören! Wenigstens für mich. So eine Armut ist mir bisher unbekannt gewesen, und ich bedauere aufrichtig alle diejenigen, die nicht auf irgend eine Weise ihr Einkommen verbessern können.
Sollte man meine Angaben bezweifeln, so bin ich bereit, Einzelheiten zu veröffentlichen.
Damit ist es nicht genug, daß man selbst an gedeckter Tafel sitzt und annimmt, daß es auch den andern gut geht.
Diese Zeilen veröffentliche ich nicht nur in meinem Interesse; denn für mich ist ja jetzt im großen und ganzen gesorgt.
Aber mich dauert der älteren Herren, die erwachsene Kinder haben.
Und die jüngeren Herren, denen es vorläufig im Verhältnis zu den älteren Herren einigermaßen gut geht, werden wohl nichts dagegen haben, daß sie es in Zukunft besser haben als wir Alten.
Ich bin der Ansicht, daß diese Zeilen der Sache der höheren Beamten mehr nützen, als alle Vertrauensmännerversammlungen.
Eine exemplificatio ad hominem müßte eigentlich jeder höhere Beamte veröffentlichen.
Denn so geht es nicht weiter. "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", sagt der Volksmund.
Aber "wer dem Altare dient, soll auch vom Altare leben", so sagt der hl. Paulus.
Man wird es also verstehen, daß ich "Lohnkutscher" bin und wird das Gerücht nicht für unglaublich halten, nach welchem ein Professor mit seinem Auto Lohnfahrten macht.
Es ist Tatsache.
Es folgt ein Vergleich mit dem Gehalt eines Amtskollegen in Köln.
Den Einsendern des Artikels möchte ich zum Schluß im Namen des Verkehrs-Verlages Dank sagen für die Reklame, die sie für uns gemacht haben.
"Ihr gedachtet mir Böses zu tun; Gott aber hat es zum Guten gewandt."
Dr. S.
1.3.2024